Der Fall Eduard Einstein: Roman (German Edition) by Laurent Seksik

Der Fall Eduard Einstein: Roman (German Edition) by Laurent Seksik

Autor:Laurent Seksik [Seksik, Laurent]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Karl Blessing Verlag
veröffentlicht: 2014-10-16T16:00:00+00:00


NOVI SAD – PRINCETON

1

Auf dem Bahnhof von Novi Sad dringt die Kälte durch die Ärmel ihres Mantels. Eine dicht gedrängte Menschenmenge hastet an ihr vorbei, ein Mann rempelt sie an, ohne sich zu entschuldigen. Um ein Haar wäre sie hingefallen, was niemanden zu stören scheint. Nur ein Polizist in einer zerknitterten Uniform mit einer zu großen Mütze auf dem Kopf bietet ihr seine Hilfe an. Sie lehnt einsilbig ab. Ihr Koffer ist fast leer, nichts weiter drin als ein Kleid, ein paar persönliche Dinge, eine am Bahnhof gekaufte Zeitung. Sie hat die Zeitung nicht aufgeschlagen.

Ihre Hüfte schmerzt. Sie stützt sich an einer Bank ab, doch sie zögert, sich hinzusetzen, aus Angst, danach gar nicht mehr aufstehen zu können.

Am Ausgang verharrt sie für einen Augenblick wie ratlos. Sie würde so gerne jemanden erkennen, der dort auf dem Trottoir steht und sie abholen will, inmitten der Grüppchen, die sich umarmen, küssen, sich um den Hals fallen, laut auflachen oder in Tränen ausbrechen. Es ist das glückliche Ballett zärtlicher Wiedersehensfreuden, zu dem sie nicht mehr eingeladen ist.

Niemand erwartet sie. Sie könnte einfach durch die Straßen der Stadt flanieren und an den Ufern der Donau entlangspazieren, wie sie es früher so gerne tat, als Zorka sie am Bahnsteig abholte. Aber sie hat diese Reise unternommen, um Zorka zu beerdigen.

Vor sechs Monate ist sie schon einmal gekommen, um an Lieserls Grab zu beten. Nur sie und Albert wissen, wo der kleine Sarg ruht. Das wird auf ewig ihr Geheimnis bleiben. Niemand wird je erfahren, wo sie jedes Jahr mitten im Frühling diese Blumen niederlegt. Kein Zeuge wird es wagen zu enthüllen, dass Einstein im Jahr 1932, bevor er ins Exil ging, nach jüdischem Brauch einen Stein auf das Grab gelegt hatte. Ein paar Leute haben ihn gesehen. Später hat man sie zur Anwesenheit des großen Wissenschaftlers an diesem Ort gefragt. Man hatte ihn im März in Novi Sad erkannt. Nein, meine Herren, Sie haben etwas getrunken und ein Gespenst gesehen. Oder vielleicht hat ein Mann mit ergrauten und zerzausten Haaren die Straße überquert, und der Alkohol hat Sie glauben gemacht, dass Sie diesen Mann kennen. Fremde mit grauen Haaren laufen in allen Orten Europas vorbei. Sie irren hier und da herum. Eine Fata Morgana, meine Herren, hören Sie lieber mit dem Trinken auf.

Sie hält ein Taxi an, nennt dem Fahrer das Ziel, die Kisačkastraße Nummer 20. Der Mann erkundigt sich, ob sie eine gute Reise hatte, ob sie nach Hause kommt. Natürlich hört er an ihrem Akzent, dass sie von hier stammt.

»Es gibt nichts, das mit unserer schönen Stadt Novi Sad mithalten kann. Ich habe Leute getroffen, die die ganze Welt umrundet haben und versichern, dass dies der schönste Ort auf Erden sei. Finden Sie nicht auch? Sie müssen mir nicht zustimmen. Hier hat jeder das Recht auf eine freie Meinung. Wir sind nicht in Deutschland.«

Sie sieht kaum noch die Straßen. Die Passanten sind wie Schemen. Sie könnte nicht sagen, wie spät es genau ist. Ihr ist kalt, das ist alles. Sie kuschelt sich an den Sitz.



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